⌂ Norbert Elias zur Soziogenese der Lyrik und der Liebe
Der Soziologe Norbert Elias[+] beobachtet und beschreibt in seinem Werk Über den Prozess der Zivilisation den Aufbau von sozialen und Über-Ich[+] Strukturen in der abendländischen Gesellschaft über Jahrhunderte. Ein großer Teil der Triebe der menschlichen Seele wird in dem Triebbündel mit dem Namen Libido zusammengefasst, ein anderer wird mit Destrudo bezeichnet. Ein wesentlicher Teil der Zivilisation ist die Zähmung von Libido und Destrudo. Laut Elias hat die höher stehende Frau, die gebildete „Herrin“ der Oberschicht, einen entscheidenden Beitrag dazu getan[2, S. 119]:
[...]
Die Zwänge[+], die auf dem Triebleben der Frau lasten, sind von jeher in der abendländischen Geschichte und dann, abgesehen von den großen, absolutistischen Höfen, so ziemlich durch die ganze, abendländische Geschichte hin, erheblich größer, als die des ebenbürtigen Mannes. Dass die Frau dieser Kriegergesellschaft in hohen Positionen und dementsprechend mit einem gewissen Maß von Freiheit[+] immer wieder eher und leichter zur Bewältigung, Verfeinerung, zur fruchtbaren Transformation der Affekte gelangt, als der gleichgestellte Mann, mag unter anderem auch ein Ausdruck dieser beständigen Gewöhnung und der frühzeitigen Konditionierung in dieser Richtung sein. Sie ist auch im Verhältnis zu dem nach außen sozial gleich stehenden Mann ein abhängiges, ein sozial niedriger stehendes Wesen.
Dem entspricht es, dass in der Kriegergesellschaft erst die Beziehung des sozial niedriger stehenden und abhängigen Mannes zu der sozial höher stehenden Frau jenen zu einem An-sich-halten, zur Versagung, zur Beendigung der Triebe und damit zur Umformung nötigt. Es ist kein Zufall, dass sich in dieser menschlichen Situation als gesellschaftliches, nicht nur als individuelles Phänomen das herausbildet, was wir »Lyrik« nennen und - ebenfalls als gesellschaftliches Phänomen - jene Umformung der Lust, jene Tönung des Gefühls, jene Sublimierung und Verfeinerung der Affekte, die wir »Liebe« nennen. Hier entstehen, nicht nur ausnahmsweise, sondern gesellschaftlich - institutionell verfestigt, Kontakte zwischen Mann und Frau, die es auch dem stärkeren Mann unmöglich machen, sich die Frau einfach zu nehmen, wenn er Lust hat, die dem Mann die Frau unerreichbar oder schwer erreichbar machen, und zugleich, weil sie höher steht, weil sie schwer erreichbar ist, vielleicht besonders begehrenswert. Dies ist die Situation, dies die Gefühlslage des Minnesangs, in dem von nun an immer wieder durch die Jahrhunderte hin die Liebenden etwas von ihren eigenen Empfindungen wiedererkennen.
Eine satirische Überzeichnung (!) und eine gewisse Aushöhlung des Kerngedankens der Zähmung der tierischen Natur des Mannes
durch die „Herrin“ stellt das folgende Bild dar.
⌂ Norbert Elias zur Soziogenese der Weltkriege
Zur Zunahme der gesellschaftlichen Integration und Abhängigkeit infolge der Entwicklung der Geldwirtschaft schreibt Elias[2, S. 126 ff.]
Die Gebundenheit der Menschen und ihrer Triebäußerungen wurde »größer«, die Integration wurde »enger«, die Interdependenz »stärker«, ebenso, wie es an die geschichtlich - gesellschaftliche Wirklichkeit nicht ganz heran kommt, wenn man sagt: dies ist „naturalwirtschaftlich“, jenes „geldwirtschaftlich“, oder, und die Ausdrucksform, die hier gewählt wurde, zu wiederholen: »Der Sektor der geldwirtschaftlichen Beziehungen wuchs.«
Und wieviel »wuchs« er, Schritt für Schritt? In welcher Weise wurden die Bindungen »größer«, die Integration »enger«, die Interdependenz »stärker«?
Unsere Begriffe sind zu undifferenziert; sie haften zu sehr am Bild materieller Substanzen. Es handelt sich bei alledem nicht nur um gradweise Verschiebungen, um ein »mehr« oder »weniger«. Jedes »Stärker«-werden der Bindungen und Interdependenzen ist ein Ausdruck dafür, dass die Bindungen der Menschen aneinander, ihre Angewiesenheit aufeinander, ihre Abhängigkeiten voneinander anders werden, qualitativ anders; dies ist gemeint, wenn man von Verschiedenheiten der Gesellschaftsstruktur spricht. Und mit dem dynamischen Geflecht der Abhängigkeiten und Angewiesenheiten, in das ein Menschenleben versponnen ist, nehmen auch Triebe und Verhaltensweisen der Menschen andere Gestalt an; dies ist gemeint, wenn man von den Verschiedenheiten im Aufbau des Seelen-Haushalts oder im Standard des Verhaltens spricht. Dass solche qualitativen Veränderungen zuweilen bei allem hin und her der Bewegung über lange Strecken hin Veränderungen in ein und derselben Richtung sind, kontinuierlich gerichtete Prozesse, nicht nur ein regelloser Wechsel, legt es nahe und macht es möglich, beim Vergleich verschiedener Phasen in Komparativen zu sprechen.
Es ist damit nicht gesagt, dass die Richtung, in der diese Prozesse sich bewegen, eine Richtung zum Besseren, ein »Fortschritt«, oder eine Richtung zum Schlechteren, ein »Rückschritt« sei. Aber es ist damit auch nicht gesagt, dass es sich nur um quantitative Veränderungen handelt. Hier, wie so oft in der Geschichte, sind es Strukturveränderungen, die sich von der Seite der quantitativen Änderungen am leichtesten, am anschaulichsten, aber vielleicht auch am oberflächlichsten fassen lassen.
Der Kapitalismus[+] ist ein Schuldgeldsystem. Die Eigenschaft, dass der Zins für die Übertragung von Verfügungsrechten am Leihkapital Schuldverhältnisse, also Verträge (§ 241 BGB[+]!) erzeugt, die Zentralbank[+] soll mit ihrer Geldpolitik[+] Vertragsabschlusszwänge (vgl. Begriff des Kontrahierungszwangs) auslösen, hat die durch Sachzwänge verursachte Erziehungs- und Integrationswirkung des Kapitalismus[+] zur Folge.
Kapitalismus[+] ist also ein Ordnungsvorgang[+]. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik[+], also ein fundamentales Naturgesetz[+]
diktiert jedoch für die Verteilung von Entropie[+] (in etwa „Unordnung“)
auf ein System (Innen) und seine Umwelt (Außen), dass die Schaffung von Ordnung[+] innerhalb eines Systems auf Kosten der Ordnung[+]
und zugunsten der Unordnung der Umwelt geht. Aus diesem Grund befinden sich die von der Zinsnahme[+] der „1.“ Welt erzeugte Unordnung,
der Krieg, die Zerstörung, die Armut, die Umweltzerstörung durch die Emission von lebensgefährlichen Stoffen
in der „2.“ und „3.“ Welt, während die „1.“ Welt relativ dazu „in Ordnung[+]“ und „Eintracht“ (Concordia) ist
(siehe dazu auch Eintrag vom 8. August 2017).
Das mag noch Jahrhunderte oder Jahrtausende dauern, wie dem auch sei, das Wachstum[+] der integrations- und Herrschaftseinheiten zu immer weiteren Größeneinheiten ist immer zugleich ein Ausdruck für strukturelle Änderungen im Aufbau der Gesellschaft, der menschlichen Beziehungen selbst.
Jedes Mal, wenn sich das Schwergewicht innerhalb der Gesellschaft Integrationseinheiten einer neuen Größenordnung zuneigt - in der Gewichtsverlagerung zugunsten der großen, zuungunsten der kleineren und mittleren Feudalherren kommt je ein Schub in dieser Richtung zum Ausdruck -, jedesmal hängt die Wandlung damit zusammen, dass die gesellschaftlichen Funktionen sich anders und stärker differenziert haben, dass die Aktionskarten der Gesellschaftorganisation, der militärischen, wie der wirtschaftlichen Organisation, mehr Glieder bekommen haben und länger geworden sind. Jedesmal bedeutet es, dass das Geflecht der Angewiesenheiten und Abhängigkeiten, die sich in dem Einzelnen kreuzen, größer und seiner Struktur nach anders geworden ist; und jedesmal ändert sich in genauester Korrespondenz mit dem Aufbau dieses Geflechts von Abhängigkeiten auch die Modellierung[+] des Verhaltens und des ganzen emotionalen Lebens, die Gestalt des Seelenhaushalt.
Der Prozess der Zivilisation ist, von der Seite des Verhaltens und des Trieblebens her gesehen, dasselbe, wie, von der Seite der menschlichen Beziehungen her gesehen, der Prozess der fortschreitenden Verflechtung, die zunehmende Differenzierung der gesellschaftlichen Funktionen und, ihr entsprechend, die Bildung immer umfassendere Interdependenzen, immer größerer Integrationseinheiten, von deren Ergehen und Bewegungen der Einzelne abhängig ist, ob er es weiß oder nicht.
Hier in diesem Zitat kommt wieder einmal die (zumindest anscheinend) naive Vorstellung zum Ausdruck, der Kapitalismus[+] könnte noch weitere tausend Jahre die Welt zerstören. Diese Naivität Elias' ist nicht verwunderlich, da im ganzen Buch von Elias zwar das Wort »(Boden) Steuer« oder »Bodenrente« auftaucht, nicht jedoch das Wort Zins[+]! Zudem und insgesamt betrachtet ähnelt der Aufbau des zweiten Bandes von Über den Prozess der Zivilisation sehr stark dem Kapital von Karl Marx[+], ohne dass Elias diese Ähnlichkeit für irgendwo erwähnenswert zu halten scheint oder gar das Buch zu zitieren. Karl Marx[+] prophezeite im 19. Jahrhundert ein Absinken der Profitrate also des Zinses[+], als Krisensymptom des sterbenden Kapitalismus[+] und genau das erleben wir in 2012-2017 in Europa und in der sog. „1. Welt“!
⌂ Querverweise auf 'Norbert Elias zur Soziogenese der Lyrik und der Liebe'
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