Die Hierarchie menschlicher Grundwerte

Was sind Werte?

Werte sind Elemente des Über-Ichs und stellen sich in Bestimmungen, Gesetzen, Regeln, Normen, Sitten, Riten, Geboten, Verboten, Restriktionen, Tabus, usw. dar. Sie haben sich im Verlauf der Zivilisation in den durch den Kapitalismus erzeugten sozialen Räumen gebildet und waren darin und durch ihn einem Ausbreitungsvorgang unterworfen. Die Art und Weise, wie wir mit unserer eigenen seelischen Natur und der Natur der Umwelt und aller Lebewesen umgehen ist das Produkt eines langsam aber bestimmt voranschreitenden Zähmungs- und Erziehungsprozesses, den man heutzutage wie im Zeitraffer wiedererkennen können, wenn wir beobachten, wie wir unsere Kinder erziehen. Im Laufe einer Kindheit erlernen die Kinder bis zum Erwachsenenalter alle Regeln, Gesetze, Riten und Normen, welche sich über Jahrhunderte von den Oberschichten ausgehend auf die Gesellschaft ausgebreitet haben.

Werte dienen letztendlich dem Zweck, bestimmte Emotionen, Gefühlszuständen und Affekte nicht haben zu müssen und ihnen ausgesetzt zu sein und bewirken also eine Abspaltung oder Trennung von diesen Gefühlen. Norbert Elias spricht im ersten Band des Buches Über des Prozess der Zivilisation hauptsächlich von Scham, Peinlichkeit, Ekel und bestimmten Ängsten mit Bezug zu körperlicher Nähe.

Werte des Über-Ich dienen der Kontrolle des Es, Neurosenstruktur, usw....

Zur Entstehung des Werte-Spektrums der abendländlischen Gesellschaft(en)

Der deutsch-jüdische Soziologe Norbert Elias (* 22. Juni 1897 in Breslau; † 1. August 1990 in Amsterdam) beschreibt in einem seiner bekanntesten Bücher Über den Prozess der Zivilisation, wie sich die Modelle des Verhaltens von den Oberschichten der abendländischen Gesellschaften auf das Bürgertum ausbreiteten und sich im Laufe der Jahrhunderte Fremdzwänge in Selbstzwänge verwandelten. Der Verbreitungsvorgang der Regeln vollzog sich mittels abendländischer Autoren, die in sogenannten „Manierenbüchern“ die höfischen Verhaltensweisen sammelten und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machten. Aufgrund der Ordnung der Bestimmung in den hierarchischen Organisationsstrukturen des Kapitalismus breiteten sich die Regeln und das dementsprechende Verhalten von den Spitzen auf die Basen der Pyramiden aus. Den Zeitverlauf dieses Erziehungs- also Einpflanzungsvorgangs von Werten zur Formung des Seelenhaushalts, verbindet Norbert Elias mit der Teil-Bedeutung Zähmung (analog zur Domestizierung von Wildtieren) des Zivilisationsprozesses.

Zur Entwicklung der abendländischen Werte-Struktur und des abendländischen Über-Ichs schreibt Norbert Elias am Beispiel der sozio-kulturellen Regulierung des Spuckens[1]:

Was die Verbote in diesen von den Verboten in jenen unterscheidet, ist die Tatsache, dass sie in jenen, sei es auch nur in der Vorstellung, immer durch die Angst vor anderen Wesen, also durch Fremdzwänge aufrechterhalten werden, während sich in diesen die Fremdzwänge mehr oder weniger vollkommen in Selbstzwänge verwandeln. Die verbotenen Neigungen, also z.b. die Neigung zum Spucken verschwinden hier unter dem Druck dieses Selbstzwangs oder, was das gleiche sagt, unter dem Druck des »Über-Ich« und der »Langsicht-Gewohnheit« zum Teil geradezu aus dem Bewusstsein. Und zurück bleibt im Bewusstsein als Motivation der Furcht irgendeine Überlegung auf längere Sicht. So konzentriert sich in unserer Zeit die Furcht vor dem Spucken und die Scham, die Peinlichkeitsgefühle, in denen sie zum Ausdruck kommen, statt um das Bild von magischen Einflüssen, von Göttern, Geistern oder Dämonen um das genauer begrenzte und in seiner Gesetzlichkeit klarer durchschaubare Bild bestimmter Krankheiten und ihrer Erreger. Aber die Beispielreihe zeigt auch sehr deutlich, dass die rationale Einsicht in die Entstehung bestimmter Krankheiten und in die Gefährlichkeit des Sputums als Transportmittel der Krankheitserreger weder die primäre Ursache der Furcht und Peinlichkeitsgefühle, noch der Motor der Zivilisation oder der Antrieb zur Veränderung des Verhaltens mit Bezug auf das Spucken ist.

[...]

Der primäre Antrieb zu dieser langsamen Verdrängung einer Neigung, die ehemals stark und weit verbreitet war, kommt nicht aus der rationalen Einsicht in die Entstehung von Krankheiten, sondern [...] aus den Veränderungen in der Art, wie die Menschen miteinander leben, aus den Veränderungen im Aufbau der Gesellschaft.

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Die Umgestaltung des Auswerfens und schließlich das mehr oder weniger vollkommene Verschwinden des Bedürfnisses danach ist ein gutes Beispiel für die Formbarkeit des Seelenhaushalts. Mag sein, dass dieses Bedürfnis durch andere, etwa durch das Bedürfnis zu rauchen, kompensiert oder auch durch bestimmte Änderungen der Kost abgeschwächt worden ist.

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Die Neigung zum Spucken ist ersetzbar.

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Andere Bedürfnisse sind nicht bis zu dem gleichen grade ersetzbar oder umformbar und so erhebt sich hier die Frage nach den Grenzen der Transformierbarkeit des Seelenhaushalts. Ohne Zweifel hat er eine bestimme Eigengesetzlichkeit ( Autonomie ), die man »natural« nennen mag. In ihrem Rahmen formt ihn der geschichtliche Prozess der Zivilisation, sie gibt ihm Spielraum und setzt ihm Grenzen und es bleibt eine Aufgabe, diese Modellierbarkeit des menschlichen Lebens und Verhaltens durch geschichtliche Prozesse näher zu bestimmen. Jedenfalls aber wird in alledem von neuem sichtbar, wie Natur- und Geschichtsprozess kaum trennbar ineinander wirken. Die Bildung von Scham und Peinlichkeit Gefühlen, das Vorrücken der Peinlichkeit Fälle, ist beides, natürlich und geschichtlich zugleich. Diese Formen von Empfindungen sind gewissermaßen Gestaltungen der Menschennatur bei gesellschaftlichen Bedingungen von bestimmter Form, und sie wirken ihrerseits als ein Element in den geschichtlich - gesellschaftlichen Prozess zurück.

[...]

Es ist schwer zu sehen, ob die radikale Gegenüberstellung von »Zivilisation« und »Natur« mehr ist als ein Ausdruck für die Gepresstheit der zivilisierten Seelen selbst, also für eine spezifische Disproportionalität im Seelenhaushalt, die sich in der neueren Phase der westlichen Zivilisation herstellt. Jedenfalls ist geschichtlich, nämlich gesellschaftlich geprägt, der Seelenhaushalt der »Primitiven« nicht weniger als der der »Zivilisierten«, wenn jene auch ihre eigene Geschichte kaum kennen.

[...]

Es gibt keine Nullpunkt der Geschichtlichkeit in der Entwicklung der Menschen, wie es auch keine Nullpunkt der Sozialität, der gesellschaftlichen Verbundenheit von Menschen gibt. Es gibt gesellschaftlich geformte Verbote und Restriktionen, ebenso wie ihr Seelsubstrat, gesellschaftliche Kontexte, Lust und Unlust, Peinlichkeit und Entzücken hier wie dort. Es ist also mindestens nicht ganz klar, was man meint, wenn man jenen Standard, den der sogenannten Primitiven, als den schlechthin »natürlichen« diesen anderen, den der Zivilisierten, als dem geschichtlich-gesellschaftlich gegenüberstellt. Soweit es sich um psychische Funktionen des Menschen handelt, wirken Naturprozesse und geschichtliche Prozesse unablösbar zusammen.

Die Ausprägung von Manieren in den Oberschichten Frankreichs und Deutschlands diente zunächst dem Zweck, Unterscheidungsmerkmale zwischen der Oberschicht und den unteren Schichten einzuführen, einen sozialen Code, der die Angehörigen der Oberschicht gleichzeitig einte. Die Oberschichten Frankreichs und Deutschlands waren aufgrund der damaligen Gesellschaftsstruktur dazu gezwungen, es miteinander auszuhalten, denn sie waren weit in der Minderheit und sie waren die Ausbeuter der Mehrheit. Dieses Eingesperrtsein, die Isolation war möglicherweise ein Grund für die Notwendigkeit der Ausbildung von Affektregulierungen. Das Voranschreiten der Distinguiertheit war also aufgrund der Architektur des Systems ein sich selbst verstärkender Mechanismus.

Man darf zudem nicht vergessen, dass die Oberschichten schon immer überwiegend Konsumgesellschaften waren, während die Masse der Menschen in den unteren Schichten produktiv tätig war und nicht so viel Langeweile empfand wie die oberen Schichten. Mit der Langeweile steigerte sich auch die Achtsamkeit gegenüber den eigenen Empfindungen und Emotionen und begegnete man sich bei Tisch, dann reagierte man entsprechend empfindlich auf die oben genannten Gefühle. In den unteren Schichten waren die Menschen aufgrund des Mangels hingegen froh, wenn sie etwas zu essen hatten und achteten weniger auf ihre Tischmanieren.

Die Gesellschaftsstrukturen Frankreichs und Deutschlands bis zur französischen Revolution waren überwiegend zweistufig. Karl Marx sprach auch 60 Jahre nach der französischen Revolution noch von einer Zweiklassengesellschaft. In Folge der französischen Revolution wurde durch die Liberalisierung der Zinsnahme allen Menschen das Zinsnehmen ermöglicht, so dass sich in der Großen Pyramide im Verlauf der Zeit mehr Schichten zwischen der Spitze und der Basis einzogen. Die Menschen konnten auf und absteigen und ihren Platz innerhalb der immer vielschichtiger werdenden Pyramide mitsamt dem dazugehörigen Verhaltens-Code finden. Soziologen sprechen in diesem Zusammenhang von einer Stratifizierung der Gesellschaft.

Mit zunehmendem Erfolg des Kapitalismus breitete sich Wohlstand in den Gesellschaften aus, und die Menschen hatten im Vergleich zu vorher mehr Zeit, sodass sich die Aufgestiegenen auch der Übernahme von Verhaltensweisen der Oberschicht widmen konnten, weil sie den selben „katalytischen Bedingungen“ ausgesetzt waren, also Nähe und Langeweile, wie die Oberschichten.

Insgesamt beobachtet man eine Spaltung körperlicher Beziehungen und eine Versachlichung mit Hilfe von Gegenständen, die sich in die Beziehungen einschoben.

Referenzen / Einzelnachweise